Ein Musikinstrument intuitiv erlernen
Noten pauken, nachsingen? Einen anderen Ansatz
vertritt die «Music Learning Theory»: Sie besagt, dass musikalisches
Lernen ähnlich dem Erlernen einer Muttersprache abläuft.
Musik zu hören ist eine Sache, Musik zu erzeugen
eine andere. Ab welchem Zeitpunkt sollen Eltern beginnen, ihr Kind
musikalisch zu fördern?
Grundsätzlich gilt, dass
Musikkurse bereits ab einem sehr frühen Lebensalter besucht werden
können. Für den ungarischen Musikpädagogen Zoltán Kodály (1882 967)
konnte die musikalische Erziehung gar nicht früh genug beginnen. Er
beantwortete die Frage, wann der beste Zeitpunkt für das musikalische
Lernen sei, mit einer gehörigen Portion Ironie: «Neun Monate vor der
Geburt ... der Mutter!»
Kodály spielte darauf an, dass
musikalische Fähigkeiten nicht nur durch Gene vererbt, sondern auch
durch die Situation der Familie entwickelt werden. Die musikalische
Betätigung der Eltern und deren Umgang mit Musik spielen für die
musikalische Entwicklung des Kindes eine wichtige Rolle. Diese beginnt
schon im Mutterleib. Man weiss, dass sich das Hörvermögen des Fötus im
Mutterleib ab der 22. Schwangerschaftswoche herausbildet. Der
heranwachsende Mensch hört alles mit, was im Aussenleben stattfindet:
Geräusche, Stimmen und – Musik.
Das pränatale Klassenzimmer
Eine Frühförderung des Babys im Mutterleib ist in
vielen Untersuchungen ein Thema. Der kalifornische Arzt Rene Van de
Carr, Pionier der pränatalen Förderung, hat dazu einen Lehrplan
geschrieben. Sein «pränatales Klassenzimmer» ist einer der zentralen
Texte rund um die pränatale Förderung. Van de Carr will in Studien
herausgefunden haben, dass ein Fötus im neunten Monat fähig ist, seinen
Atemrhythmus an Beethovens fünfte Symphonie anzupassen, wenn die Mutter
diese während der Schwangerschaft regelmässig hörte.
Der
Ansatz, dass die Erfahrungen des Kindes im Mutterleib prägend sind,
werde in der Forschung bedeutsamer, sei insgesamt aber noch jung, sagt
der Heidelberger Arzt und Psychologe Ludwig Janus. «Früher wurde der
Fötus bis zur Geburt nur als biologisches Wesen betrachtet.» Erst ab den
1970er-Jahren rückte die Geburtsbelastung für das Kind in den
Vordergrund. Jedoch nicht die Zeit davor – das ist relativ neu.
Wie Eltern mit Musik umgehen, prägt die musikalische
Entwicklung des Kindes. Sie beginnt bereits im Mutterleib.
Entwicklung des Kindes. Sie beginnt bereits im Mutterleib.
Noch kann die Forschung nicht nachweisen, dass
ungeborene Kinder durch spezielle Förderung später schlauer, gesünder
oder musikalischer werden. Einzelne Studien zeigen nur, dass sich
bestimmte intellektuelle Fähigkeiten eines Kindes bereits im Mutterbauch
anlegen. Sicher aber ist, dass die Stimme der Mutter für den Fötus
bedeutsam ist: Sie ist ein wichtiger Bezugspunkt. Dies ist unter anderem
daran zu beobachten, dass alle Säuglinge positiv auf das Singen der
eigenen Mutter oder des Vaters ansprechen.
Auch
in den folgenden Jahren hat das Singen für die Kinder eine hohe
Bedeutung für ihre (emotionale) Bildung. So kam ein Bericht von
Schweizer Musikexperten 2004 zum Schluss, dass die Zeit von der Geburt
bis zum Schuleintritt für das Erlernen des Singens als eigentliche
«Muttersprache des Menschen» entscheidend ist.
Dieser
Bericht bemängelte jedoch auch, dass viele Eltern nicht mehr singen
können oder keine Kinderlieder mehr kennen, die sie ihren Kindern zum
Trösten, Spielen oder Einschlafen vorsingen können.
Das gemeinsame Singen fördern
Um das gemeinsame Singen zu fördern und um Eltern
und Kinder zum Singen anzuregen, sind einige Bestrebungen rund um das
gemeinsame Singen entstanden, so das ElKi-Singen (Eltern-Kind-Singen),
bei welchem Kinder ab zwei Jahren mit einer Begleitperson in einer
Gruppe singen und musizieren.
Musikalische Betätigung und ein
spielerisches Herantasten an das Singen und Hören von Musik mit dem
eigenen Kind werden sicherlich von allen Musikkursen verfolgt. Sucht man
nach Musikkursen mit pädagogischen Konzepten, die das Musiklernen für
die Kinder schrittweise aufbereiten, stösst man neben den bekannten
Musiklernkonzepten von Suzuki, Dalcroze, Kodály und Orff auch auf die
Music Learning Theory (MLT).
Die MLT basiert auf den
Studien des US-amerikanischen Musikpsychologen Edwin E. Gordon (1927
015). Gordon führte in den 1970er-Jahren Beobachtungsstudien von
Musikkursen mit Babys und Kleinkindern durch und entwickelte daraus eine
Theorie des Musiklernens. Der MLT folgend vollzieht sich das Erlernen
von Musik ähnlich wie das Erlernen der Muttersprache: intuitiv. Eine
besondere Bedeutung haben in der MLT das Hören von Musik, die freie
körperliche Bewegung zur Musik und das innerliche Vorstellen, Hören und
Denken von Musik, die sogenannte Audiation (ein Kunstwort, das von
Gordon geprägt wurde).
Viele Eltern kennen heute keine Lieder mehr, die sie ihrem Kind zum Trösten oder Einschlafen vorsingen können.
Nicht das mechanische Nachsingen oder Nachspielen
von Musik ohne musikalisches Verständnis ist das Ziel, sondern eine
Musikkompetenz zu entwickeln analog zur Sprachkompetenz. Das Kind erhält
so die Möglichkeit, sein musikalisches Potenzial auszuschöpfen.
Die
Audiation ist, so Gordon, für die Musik, was der Gedanke für die
Sprache ist. Sie bezeichnet die Fähigkeit, in Musik zu denken. Dabei
geht es darum, Musik zum einen mental zu hören, bevor sie von einer
Tonaufnahme oder einem Instrument erklingt. Zum anderen geht es darum,
Musik und ihre Bestandteile hörend zu erkennen und zu verstehen.
Das
gilt vor allem fürs Singen, welches sinnvollerweise vor dem und
parallel zum Erlernen eines Instrumentes stattfinden sollte. Ein Kind
muss eine innere Klangvorstellung und ein Verständnis haben, um die
richtigen Töne erzeugen zu können. Erst wenn eine innere Tonvorstellung
und ein Verständnis für Tonalität, Harmonik, Metrum, Genre und so weiter
im Langzeitgedächtnis existieren, kann das «Vom-Blatt-Singen»
ausgeführt werden.
Vielfältige musikalische Eindrücke
Um eine solche Fähigkeit anzubahnen, werden den
Schülern oft gesungene oder gechantete (im Sprechgesang vorgetragene)
Melodien oder Rhythmen ohne Liedtexte präsentiert. Auf eine Darstellung
der Notation für die Schüler wird in den ersten Jahren des Musiklernens
mit der MLT weitestgehend verzichtet, denn Musik soll über das Ohr und
nicht über die Augen praktiziert und verstanden werden.
Dazu
werden die musikalischen Fähigkeiten der Kinder in der informellen
Musikerziehung durch kurze, abwechslungsreiche Melodien und Rhythmen
(Chants) ohne Worte, durch musikalische Dialoge, freie Bewegungen,
Spiele und Momente der Stille angebahnt. Diese Art der Musikerziehung
ist für Babys ab Geburt bis zu sechsjährigen Kindern gedacht.
Kleine Kinder erleben Musik nicht über ihren Intellekt, sondern über ihren Körper.
Die Aufgabe der Lehrperson ist es, den Kindern
vielfältige musikalische Eindrücke zu vermitteln und ihnen Zugänge zur
Musik zu verschaffen. Diese Partizipation an der Musik wird durch freie,
fliessende und tänzerische Bewegungen zur Musik und durch die
musikalische und nonverbale Kommunikation zwischen Lehrperson und Kind
hergestellt.
Die Lehrperson kommuniziert durch das
Wiederholen von musikalischen Äusserungen mit den Kindern und nonverbal
zum Beispiel durch Blickkontakte und das Spiegeln von Gesten und
Bewegungen mit ihnen. Sie ermöglicht so dem Kind, eine Beziehung zur
Musik aufzubauen, indem das Kind die musikalischen Phänomene wie
beispielsweise einen Dreivierteltakt durch seine eigenen körperlichen
Bewegungen erfahren kann, ohne dass es vorgegebene Bewegungen der
Lehrperson imitieren oder gar eine Bewegungschoreografie erlernen muss.
Musik soll über das
Ohr und nicht über die Augen verstanden werden. Die Music Learning
Theory verzichtet deshalb auf Noten.
Gordon spricht davon, dass kleine Kinder von sich
aus auf Musik mit freien, stetig fliessenden Bewegungen reagieren. Er
schlussfolgert daraus, dass Kinder über das eigene körperliche Erleben
lernen und ihr Körper die Musik lange vor dem Intellekt.
Den Prozess, die Musik nicht nur zu imitieren, sondern sich singend und bewegend zur Musik auszudrücken und sie aus einem sich anbahnenden Verständnis heraus zu «produzieren» wie bei der Muttersprache, unterscheidet die MLT von anderen Kursen im Bereich des frühkindlichen Musiklernens.
Den Prozess, die Musik nicht nur zu imitieren, sondern sich singend und bewegend zur Musik auszudrücken und sie aus einem sich anbahnenden Verständnis heraus zu «produzieren» wie bei der Muttersprache, unterscheidet die MLT von anderen Kursen im Bereich des frühkindlichen Musiklernens.
Dieser Artikel stammt aus dem «Kindergartenheft 2. Jahr/Herbst» mit dem Titel «Fast schon gross» und wendet sich an Eltern von Kindergartenkindern der zweiten Klasse. Bestellen Sie jetzt eine Einzelausgabe!